Wenn das Volk in der Verbannung noch sich zum Jehova seinem Gott bekehrt, so wird auch er seine Gnade ihm wieder zuwenden und es aus der Zerstreuung wieder sammeln, wie schon 4,29ff. u. Lev. 26,40ff. verkündigt und zugleich bemerkt worden, daß die äußerste Not das Volk zur Besinnung bringen und zur Umkehr bewegen werde. V. 1–3. „Wenn über dich alle diese Worte, der Segen und der Fluch, den ich dir vorgelegt, kommen werden.“ Die Erwähnung des Segens in diesem Zusammenhange erklärt sich daraus, daß Mose hier die Zukunft überhaupt ins Auge faßt, in der ja nicht blos Fluch, sondern auch Segen über das Volk kommen wird, je nach der Stellung des Volks im Ganzen und in seinen einzelnen Gliedern zum Herrn, da auch in den Zeiten des größten Abfalles unter dem Volke immer noch ein heiliger Same sein wird, der nicht aussterben kann, weil sonst das Volk ganz und für immer verworfen werden müßte, womit aber auch Gottes Verheißungen zu nichte würden, was unmöglich ist. „Und du zu Herzen nimmst unter allen Völkern u. s. w.“ sc. was dich betroffen hat, nicht nur den Fluch, der auf dir lastet, sondern auch den Segen, der die Befolgung der Gebote des Herrn begleitet, „und zum Herrn d. G. zurückkehrst und auf seine Stimme hörst von ganzem Herzen u. s. w.“ (vgl. 4,29): so wird der Herr dein Gefängnis wenden und sich dein erbarmen und dich wieder sammeln … שׁוּב אֶת־שְׁבוּת bed. nicht: die Gefangenen zurückführen, wie die neueren Lexx. irrig angeben — das Kal שׁוּב hat nirgends die Bed. des hiph. — sondern: das Gefängnis wenden, und zwar immer im bildlichen Sinne s. v. a. das Elend wenden, Hi. 42,10. Jer. 30,8. Ez. 16,53. Ps. 14,7 und auch Ps. 85,2. 126,2. 4, nur daß in manchen Stellen das Elend des Exils, in welchem das Volk schmachtet, als ein Gefängnis dargestelt wird. Gegen die Bed.: die Gefangenen zurückführen, ist schon unsere Stelle entscheidend, indem hier die Sammlung aus den Heiden erst als Folge des שׁוּב אֶת־שְׁבוּת genannt ist, eben so Jer. 29,14, wo das Zurückführen (הֵשִׁיב) ausdrücklich davon unterschieden ist, ganz besonders aber Jer. 30,18, wo שׁוּב שְׁבוּת אָֽהֳלֵי יַעֲקֹב synonym ist dem: sich der Wohnungen Israels erbarmen, die Stadt wieder aufbauen, also die in Trümmern liegende Stadt als שְׁבוּת Gefängnis vorgestelt ist. — V. 4f. Die Sammlung Israels wird aus allen Ländern der Erde erfolgen. Mögen auch die Verstoßenen am Ende des Himmels sein, der Herr wird sie von dort holen und in das Land ihrer Väter zurückbringen, und dem Volke wohltun und dasselbe mehren zahlreicher als seine Väter. Diese letzten Worte zeigen, daß diese Verheißung nicht unmittelbar auf die Sammlung Israels aus der Zerstreuung bei seiner endlichen Bekehrung zu Christo geht und keinen Beweis liefert für die Meinung, daß die Juden alsdann nach Palästina zurückgeführt werden sollen. Zwar haben auch diese Worte eine Bedeutung für die endliche Erlösung Israels. Dies erhellt schon aus dem Fluche der Zerstreuung, der sich nicht auf das assyrische und babylonische Exil beschränken läßt, sondern auch die römische Zerstreuung, in der das Volk sich noch jetzt befindet, in sich begreift, und noch deutlicher aus der Wiederaufnahme unserer Verheißung in Jer. 32,37 und andern prophet. Stellen. Aber diese Bedeutung liegt nicht auf dem Gebiete des Buchstabens, sondern auf dem des Geistes. Sollte eine Vermehrung der aus der Zerstreuung in alle Welt gesammelten Juden über die Volkszahl seiner Väter, also über die Zahl der Israeliten in den Zeiten Salomo’s und der ersten Könige beider Reiche hinaus erfolgen, so würde Palästina für ein so stark vermehrtes Volk nicht Raum genug darbieten. Die hier verheißene Vermehrung wird, soweit sie in die messianische Zeit fällt, in der Verwirklichung der dem Abraham gegebenen Verheißung, daß sein Same zu Völkern werden soll (Gen. 17,6 u. 16) d.h. in der zahllosen Vermehrung nicht des Ἰσραὴλ κατὰ σάρκα sondern des Ἰσραὴλ κατὰ πνεῦμα bestehen, dessen Land nicht auf die Grenzen des irdischen Canaan oder Palästina’s beschränkt ist, vgl. Bd. I S. 165f.
Der Besitz des irdischen Canaan für alle Zeiten ist in der Thora dem Volke Israel nirgends zugesagt, vgl. zu 11,21. — V. 6. Dann wird der Herr ihr und ihrer Söhne Herz beschneiden (s. 10,16), daß sie ihn von ganzem Herzen u. s. w. lieben werden. Wenn Israel wahrhaft gedemütigt zum Herrn sich wendet, so wird er sich finden lassen, wird es durch die Macht seiner Gnade zu warer Umkehr führen und heiligen, wird das steinerne Herz von seinem Fleische nehmen und ihm ein fleischernes Herz, ein neues Herz und einen neuen Geist geben, daß sie ihn warhaft erkennen und seine Gebote halten werden, vgl. Hesekiel 11,19. 36,26 u. Jer. 31,33ff. 32,39ff. לְמַעַן חַיֶּיךָ wegen deines Lebens s. v. a. damit du lebest, zum waren Leben gelangest.
Die Erfüllung dieser Verheißung erfolgt nicht mit einem Male.
In geringen Anfängen hat sie begonnen bei der Erlösung aus dem babylonischen Exile, in höherem Maße bei der Erscheinung Christi für alle Israeliten, die Christum als ihren Heiland aufnahmen; seitdem setzt sie sich fort durch alle Zeiten in der Bekehrung einzelner Kinder Abrahams zu Christo und wird sich in der Zukunft auf noch herrlichere Weise am ganzen Volke realisieren, Röm. 11,25ff. Die Worte Mose’s beziehen sich nicht auf diesen oder jenen Zeitraum, sondern umspannen alle Zeiten. Denn Israel ist zu keiner Zeit in allen seinen Gliedern verstockt und verworfen, obgleich die Masse des Volks bis auf den heutigen Tag unter dem Fluche lebt. — V. 7. Nach seiner Bekehrung aber werden die Flüche, die bis dahin auf ihm lasteten, auf seine Feinde und Hasser fallen, gemäß der Verheißung Gen. 12,3. — V. 8ff. Israel wird dann wieder auf die Stimme des Herrn hören und seine Gebote halten und infolge dessen sich des reichsten Segens seines Gottes erfreuen. In dem אַתָּה תָשׁוּב וְשָׁמַעְתָּ hat תָשׁוּב adverbiale Bedeutung. Dies erhellt klar aus dem ihm correspondirenden כִּי תָשׁוּב יְהֹוָה v. 9b, bei dem die adverbiale Bedeutung außer Zweifel feststeht.
Die Vv. 8–10 enthalten den allgemeinen Gedanken: Israel werde alsdann wieder in das normale Verhältnis zu seinem Gott kommen, wieder in die wahre und volle Bundesgemeinschaft mit dem Herrn eintreten und alle Segnungen des Bundes genießen. V. 9a ist Wiederholung von 28,11. Der Herr wird sich wiederum über Israel freuen, ihm wolzutun (vgl. 28,63), wie er sich über seine Väter gefreut hat. Die Väter sind nicht blos die Patriarchen, sondern alle frommen Vorfahren des Volks. V. 10. Nochmalige Einschärfung der unerläßlichen Bedingung des Heils.
Carl Friedrich Keil, Biblischer Commentar über die Bücher Mose’s: Leviticus, Numeri und Deuteronomium, ed. Carl Friedrich Keil und Franz Delitzsch, Zweite, Verbesserte Auflage., Bd. 2, Biblischer Commentar über das Alte Testament (Leipzig: Dörffling und Franke, 1870), 544–547.