Ps 10
Der Lobpreis für die gerechte Rechtfertigung, die in Ps 9 ganz deutlich wird, wird in Ps 10 weniger betont. Ps 10 ist eine Bitte an Gott, seine Hilfe für den Elenden nicht zu verzögern. Der Psalmist beschrieb die furchteinflößende Stärke der Gottlosen in ihrer Gottlosigkeit Gott gegenüber und in ihrem Auflauern der Hilflosen. Dann bat er Gott, sich zu erheben und die Unterdrückten durch die Zerschlagung der Gottlosen zu rächen.
A. Die Beschreibung der Gottlosen
( 10,1-12 )
Ps 10,1
Der erste Teil des Psalms ist eine machtvolle Beschreibung der verwerflichen Stärke des Gottlosen. Aber zu Beginn des Psalmes wandte der Schreiber seine Klage dem Herrn zu, der an der Lage des Unterdrückten keinen Anteil zu nehmen schien. Die Tatsache, daß der Gottlose triumphieren könnte, veranlaßte den Psalmisten, die Frage zu stellen, warum der HERR sich von der Not fernhielt ("warum" taucht zweimal in V. 13 auf). Die Frage ist ein kühner Ausdruck der wahren Empfindungen unterdrückter Menschen, die nach Hilfe schreien.
Ps 10,2-7
In diesen Versen entwirft David den Charakter des Unterdrückers. Voller Stolz (Anmaßung, V. 2 und Stolz, V. 3 ) quält der Gottlose den Schwachen und redet beleidigend über den Herrn (vgl. V. 13 ). Der Gottlose ist selbstsicher (stolz, V. 4 ; hochmütig, V. 5 ) und hat keinen Platz für Gott oder Gottes Gebote. Solch ein Mensch ist davon überzeugt, daß er nicht von seinen gottlosen Wegen abgebracht werden kann. Er meint, daß er ungestört seinen Wohlstand (V. 5 ) und sein Glück (V. 6 ; vgl. Ps 73,3 ) genießen kann. Seine Worte sind betrügerisch und zerstörerisch ( Ps 10,7 ). Der Satz: "Mühsal und Unheil sind unter seiner Zunge" bedeutet, daß die Worte, die er spricht, Unheil zur Folge haben.
Ps 10,9-12
Hier beschreibt der Psalmist den Gottlosen als einen wie ein Löwe (vgl. den Kommentar zu Ps 7,3 ) im Verborgenen lauernden Menschen (er liegt im Hinterhalt taucht in V. 8-9 dreimal auf), der seine hilflosen (vgl. Ps 10,12 ) Opfer angreifen und in sein Netz ziehen will, wie es der Fischer mit den Fischen macht. Dieses Bild eines Löwen deutet auf listige Menschen hin, die darauf warten, angreifen zu können. Die Elenden (d. h. die Gerechten) werden von den Gottlosen vernichtet. Weil Gott sie vielleicht nicht auf der Stelle rettet, ist der Gottlose davon überzeugt, daß Gott sich nicht um den Gerechten kümmert und ihn nicht beachtet.
B. Die Aufforderung an Gott, Rache zu üben
( 10,12-18 )
Ps 10,12-15
Der Psalmist schrie ernsthaft zu Gott um Rache. Gott solle sich erheben (vgl. Ps 9,20 ) und den Hilflosen helfen (vgl. Ps 10,9 ). Ein Grund für seine Bitte ist, daß es dem Gottlosen nicht gestattet sein darf, Gott zu verachten (vgl. V. 3 ) und zu meinen, daß er mit seinem Tun davonkäme (vgl. warum in V. 1 ). Der Herr sollte veranlaßt werden zu antworten, denn die Elenden vertrauen auf Gott, der Kummer und Elend sieht und der ihr Helfer ist (V. 14 ). Die besondere Bitte des Psalmisten lautete, daß Gott den Gottlosen (V. 15 ) bestrafen möge. Es werden hier wieder Bilder gebraucht: den Arm eines Menschen zu brechen bedeutet, seine Macht zu zerstören. Wenn Gott durch eine derartige Vernichtung die Gottlosen richtet, dann werden sie dazu aufgefordert, für ihre Taten Rechenschaft abzulegen. Der Psalmist könnte dann nicht länger sagen, daß Gott seine Taten nicht sieht (vgl. V. 13 ) oder sich um den Elenden nicht kümmert.
Ps 10,16-18
Der Psalm schließt mit einem Ausdruck des Vertrauens, daß das Gebet des Schreibers erhört worden ist. An dieser Stelle erklärte der Psalmist wie in Ps 9 ,daß der Herr der Herrscher ist (vgl. Ps 9,8 ) und daß diejenigen aus den Völkern (vgl. Ps 9,6.16.18.20-21 ), die ihm entgegenstehen, vergehen werden (vgl. Ps 9,4.6.16 ). Der Psalmist war sich sicher, daß der Herr das Schreien des Elenden erhört und seine Sache verteidigt, so daß die Gottlosen, die nur sterbliche Menschen sind ( ?MnNS ; vgl. Ps 9,21 und den Kommentar zu Ps 8,5 ), sie nicht länger erschrecken würden.
Der Glaube, daß Gott gegen die Tyrannei der Gottlosen für die Elenden und die Bedürftigen eintritt, war für den Psalmisten ein Trost und die Grundlage für sein Gebet.
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PSALM 10
schildert seinem Hauptinhalt nach den Zustand der Dinge in den letzten Tagen, bis Jehova zum Gericht aufsteht, und im Besonderen den Charakter des Gesetzlosen (denn an seinem Charakter wird er erkannt), und dieser Charakter wird besonders in dem Juden gefunden. Man vergleiche Jesaja 40–48 mit Jes 49–58; in dem einen Abschnitt ist besonders von Abgötterei und Babel die Rede, in dem anderen von der Verwerfung des Messias – den zwei Hauptsünden (gegen Jehova und Seinen Gesalbten), die das Gericht über die Juden bringen. Der Gesetzlose handelt in seinem Stolz nach dem Sichtbaren, während der Gerechte durch den Glauben an das, was Jehova ist, durch den Glauben an Ihn, in seinem Tun geleitet wird. Der Gesetzlose rühmt sich des Gelüstes seiner Seele und schätzt den glücklich, welchen Jehova verabscheut. Er verfolgt gewissenlos seine Pläne, indem er den Elenden durch List zu verderben sucht, und denkt, dass Gott denselben vergessen habe. Wie gut kann Christus dem Überrest in diesen Umständen helfen! Die Elenden schreien unter dem Druck; warum steht Jehova fern und verbirgt Sich in der Zeit der Drangsal? Freilich sind diese Elenden noch weit entfernt von den Leiden, in denen Christus Sich befand; doch geht sozusagen der Schatten dieser Leiden über sie hin; aber sie können auf Gott hoffen. So rufen sie in Vers 12 zu Gott, dass Er Seine Hand erheben und der Elenden nicht vergessen möge; warum sollte der Gesetzlose Gott verachten? Jehova hat es gesehen und wird vergelten; der Arme übergibt sich Ihm.
Der Schluss des Psalmes, von Vers 16 an, rühmt das Eingreifen Jehovas als Antwort auf das Schreien der Elenden sowie die daraus entstehenden Folgen. „Jehova ist König immer und ewiglich; die Nationen sind umgekommen aus seinem Lande.“ Das ist das öffentliche Gericht. Dann kommt das Geheimnis Jehovas: „Den Wunsch der Sanftmütigen hast du gehört.“ Er hat ihr Herz befestigt, und dann hat Sein Ohr aufgemerkt; und die Folge davon ist das Gericht, indem Er Richter ist für die Waise und den Unterdrückten, damit der Mensch, der von der Erde ist – der, welcher seine Kraft und Hoffnung auf der Erde hat –, hinfort nicht mehr schrecke.
Noch mögen einige andere Bemerkungen über die beiden Psalmen, die wir soeben betrachtet haben, hier Platz finden. Außer dem armen, unterdrückten Überrest, der auf Gott harrt, begegnen wir hier noch zwei, in gewissem Sinne drei Klassen von Personen, zunächst haben wir die Heiden (gojim), die Israel fremd, seine Unterdrücker und Gottes Feinde sind, und dann die Gesetzlosen, die, wie wir gesehen haben, vornehmlich den Juden entstammen. Wenn ich von drei Klassen rede, so denke ich an die zwiefache Weise, in der von den Gesetzlosen die Rede ist. Im allgemeinen wird von dem Gesetzlosen (Einzahl) gesprochen, in Psalm 10 überall, in Psalm 9 ebenfalls, ausgenommen in Vers 17. Hier steht das Wort in der Mehrzahl, um zu zeigen, dass alle Gesetzlosen ihren Platz in dem Scheol finden werden. Wenn es in der Einzahl steht, so bezeichnet es, wie ich glaube, den Charakter; doch zweifle ich nicht daran, dass es in besonderem Sinne einen Gesetzlosen geben wird (harascha), den Antichrist, der aber hier sicher nur nach seinem Charakter bezeichnet wird, nicht durch eine bestimmte Prophezeiung betreffs seiner Person. Die Gesetzlosigkeit ist offenbart, nicht aber der Gesetzlose, und sie ist nicht auf einen einzelnen beschränkt. Die Ähnlichkeit mit den Umständen, in denen Sich Christus in Seiner Verwerfung auf der Erde befand, tritt klar hervor, wie dies bei allen Formen der Gesetzlosigkeit der Fall ist; sogar die Dreieinheit im Bösen (Satan, das Tier und der falsche Prophet) ist im Buche der Offenbarung nachgeahmt. Man findet dort ferner die Stadt des Verderbens, die Braut Christi usw.
Mit Ausnahme des zweiten Psalmes, in dem der Messias der Ratschlüsse Gottes vor unsere Blicke tritt, ist uns bisher der Gerechte in charakteristischen Zügen vor Augen gemalt worden, und deshalb war es auch nötig, den Charakter der ganzen Klasse der Gegner Jehovas und Seines Christus zu zeichnen, obwohl dieser Charakter in einer einzelnen Person besonders zum Ausdruck kommen mag. Der Überrest muss alle nach diesem Charakter beurteilen.
Bemerken wir ferner, dass diese Gesetzlosen mit den Heiden gerichtet werden; sie fallen alle zusammen unter dasselbe Gericht. „Es werden zum Scheol umkehren die Gesetzlosen, alle Nationen, die Gottes vergessen“ (Ps 9, 17). So auch in Vers 5: „Du hast die Nationen gescholten, den Gesetzlosen vertilgt.“ Psalm 9 ist, wie wir gesehen haben, die allgemeine Darstellung des Eingreifens Jehovas im Gericht. In Psalm 10 haben wir besonders die Leiden und Trübsale, durch die der Überrest innerlich zu gehen haben wird. Daher finden wir hier den Gesetzlosen, aber nicht die Nationen, bis zur Ausführung des Gerichts in Vers 16, wo auch von ihnen gesagt wird, dass sie aus dem Lande Jehovas umgekommen sind, um so zu zeigen, dass dieses Gericht dasselbe ist, wie in den allgemeinen Darstellungen des 9. Psalmes. Wie völlig alles dieses der Geschichte der letzten Tage entspricht, braucht kaum gesagt zu werden.
Fußnoten
- 1Diese Namen sind nicht ohne Wichtigkeit. Der eine ist der beständige Name Gottes in Israel, Sein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht (2. Mo 3,15); der andere ist der Name Gottes im Tausendjährigen Reich und wird durch die Gerichte, von denen in dem Psalm die Rede ist, eingeführt (Vgl. Ps 91 und 1. Mo 14,19.20).
- 2Hier in der Mehrzahl. Der Unterschied ist oft wichtig, da Paulus auch von dem Gesetzlosen spricht (2. Thes 2,8).
- 3In Offenbarung 4 findet man in den vier lebendigen Wesen sowohl den Charakter der Seraphim als auch den der Cherubim, da jene Wesen, wie ich glaube, die Gerichte ankündigen oder einführen, die sich als solche kennzeichnen, die der heiligen Natur Gottes entsprechen und zugleich Seiner Regierung Ausdruck geben. Allerdings ist Jesaja 6, wo nur Seraphim gefunden werden, auf ein Gericht im Wege der göttlichen Regierung anzuwenden, weil die Gnade einen Überrest bewahrt; aber was der Prophet sieht, ist die Unvereinbarkeit Jehovas mit der Unreinigkeit, mit dem Menschen in sich selbst.
-*-*-* PSALM 10
Während der gottesfürchtige jüdische Überrest das Kommen des Herrn zur Aufrichtung des Reiches in Gerechtigkeit erwartet, muss er den Aufstieg des Antichristen (des Gottlosen 2) im Land mit ansehen. Dieser Psalm beginnt nicht mit Lobpreis, sondern mit einem dringenden Ruf zu dem Herrn wegen der unumschränkten Macht des Antichristen. Aus seiner Bedrängnis fragt der Überrest den Herrn, warum dieser so lange wartet, sie zu befreien (Ps 10,1). Er beschreibt den moralischen Charakter des „Menschen der Sünde“ (des Antichristen) in all seinem arroganten Hochmut und seiner Auflehnung gegen Gott. Diesen kennzeichnet es, sich im Stolz durchzusetzen (Ps 10,2–4) und nicht auf den „Gott seiner Väter“ zu achten (Ps 10,4; Dan 11,37). Aufgrund seines Erfolgs denkt er, er sei unbezwingbar für seine Feinde (Ps 10,5.6). seine Sprache ist sittenlos (Ps 10,7). Und nicht zuletzt verfolgt er den gottesfürchtigen „Elenden“ (Ps 10,2.8–11). Der Überrest schreit zu dem Herrn, dass Er erscheine und den Menschen der Sünde vernichte (Ps 10,12–15). Er freut sich im Glauben auf die Zeit, in welcher der Herr kommen wird, um als König zu herrschen und die Erde in Gerechtigkeit zu richten, und in welcher der Antichrist („der Mensch, der von der Erde ist“) vernichtet werden wird (Ps 10,16–18).