Ps 80
In diesem Gebet, daß der Herr Israel wieder aufrichten und erretten möge, beklagte der Psalmist das furchtbare Unheil, das durch ihre Feinde über sie hereingebrochen war. Er beschrieb den Segen und den Fluch über das Volk, das, einem Weinstock gleich, zunächst gedieh und dann zugrunde ging. Er wiederholte den Kehrreim (V. 4.8.20 ), daß Gott sich ihnen doch zuwenden und sie erretten solle.
A. Anrufung des Hirten Israels
( 80,2-4 )
Ps 80,2-3 : Der Psalmist rief den Herrn, den Hirten (vgl. Ps 23,1;28,9 ) seines Volkes, der Schafe, an, den Stämmen in ihrer Not doch beizustehen. Es wird geschildert, daß der Herr im Tempel über den goldüberzogenen Cherubim über der Bundeslade thront (vgl. Ps 99,1; 1Kö 6,23-28 ). Josef , der für das nördliche Königreich steht, und Benjamin , der für das südliche Königreich steht, waren die beiden Söhne Rahels; Ephraim und Manasse , Josefs Söhne, waren ihre Enkel.
Ps 80,4
Der Psalmist betete, daß Gott durch seine Gnade doch sein Volk wiederherstellen und erretten möge. Dieser Refrain taucht noch einmal in den Versen 8. 20 auf. Der Gedanke der Gnade Gottes findet in dem Bild des leuchtenden Angesichtes Ausdruck, dem strahlenden Angesicht der Güte Gottes (vgl. 4Mo 6,25 und den Kommentar zu Ps 4,7 ).
B. Die Züchtigung Gottes
( 80,5-8 )
Ps 80,5-8
Der Psalmist beklagte die strenge Züchtigung, die Gott über sein Volk gebracht hatte. Er schrie zu Gott und fragte, wie lange (vgl. den Kommentar zu Ps 6,4 ) sich sein Zorn noch gegen es richten solle. Gott gab seinem Volk Tränen zur Speise (wie ein Hirte). Er hatte Unheil über es gebracht, so daß es sehr heftig weinte ( mit einem Tränenkrug getränkt wurde). Aber die schmerzlichste Tatsache der Züchtigung Gottes war, daß die Feinde Israels ihren Spott trieben (vgl. Ps 79,10 ).
Noch einmal wurde im Refrain der Wunsch ausgedrückt, daß Gott durch seine Güte sein Volk doch wiederbeleben solle (vgl. Ps 80,4.20 ).
C. Der Segen hat aufgehört
( 80,9-15 b)
Ps 80,9-12
Der Psalmist stellte Israel im Bild des Weinstockes dar, den Gott aus Ägypten herbeigebracht und im Land eingepflanzt hatte. Er gedieh, so daß er sich bis zu den Bergen im Süden ausbreitete, bis zu den Zedern des Libanon im Norden, bis zum Meer (dem Mittelmeer im Westen) und bis zum Strom (dem Euphrat) im Osten.
Ps 80,13-15 b
Dennoch war die Pracht dahingeschwunden. Mit einer rhetorischen Frage beklagte der Schreiber Asaf, daß Gott die Mauern des Volkes niedergerissen und anderen so die Möglichkeit geschaffen hatte, den Weinstock auszurauben. Das hebr. Wort für "Mauern" (das auch in Ps 89,41; Jes 5,5 gebraucht wird) steht nicht für Stadtmauern, sondern für schützende Mauern um einen Weinberg. Die Feinde, die Israel ausraubten, werden hier als Wildschweine und wilde Tiere beschrieben.
Vielleicht rührt das Bild Israels als Weinstock von 1Mo 49,22 her. Es wird zudem in Jes 5,1-7; 27,2-6; Jer 2,21; 12,10 und Hos 10,1 benutzt. Jesus bezeichnete sich selbst als Weinstock ( Joh 15,1.5 ), denn er, der verheißene Same, erfüllte und verkörperte das Handeln Gottes mit Israel. Als Israel versagte, erfüllte Jesus doch den Plan Gottes.
Die ersten beiden Zeilen von Ps 80,15 sind ein Refrain, der in Vers 4.8.20 ähnlich, aber mit anderer Wortwahl wiedergegeben wird.
D. Versprechen zum Gehorsam
( 80,15 c. 16-20 )
Ps 80,15-17 (Ps 80,15c-17)
Asaf gebrauchte weiterhin das Bild des Weinstockes, wenn er beklagte, daß die Wurzeln eingepflanzt worden waren und der Sohn, der aufgewachsen war, vernichtet wurde ( abgehauen ). "Sohn" ist die wörtliche Wiedergabe des Hebr. und bezieht sich auf das Volk, das aus "der Wurzel" entsprungen ist. So könnte "Sohn" mit "Zweig" wiedergegeben werden. Auch dieses Bild (vgl. den Kommentar zu V. 13 ) könnte aus 1Mo 49,22 stammen. Der hebr. Begriff "Sohn" wird in 2Mo 4,22 und Hos 11,1 auch für das Volk gebraucht. Das NT bezieht in Mt 2,15 erneut die Worte eines Propheten ( Hos 11,1 ) auf Christus, den Samen als den Stellvertreter Israels.
Ps 80,18-20
Der Psalmist betete, daß die Hand Gottes es wieder erheben möge. Der Ausdruck der Mann deiner rechten Hand könnte eine Anspielung auf Benjamin sein, denn Benjamin bedeutet "Sohn der rechten Hand". Der Sohn des Menschen bezieht sich auf Israel (wieder als der Sohn). Asaf erklärte, daß, wenn Gott sein Eigentum segne, das Volk ihm treu sei.
Noch einmal wird der Refrain wiederholt, der die Bitte um Gottes Trost für sein Volk aufgrund seiner Güte wiederaufnimmt (vgl. V. 4.8 ).
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PSALM 80
Psalm 80 zeigt uns in bemerkenswerter Weise das Volk Israel, seine vergangenen und zukünftigen geschichtlichen Verbindungen, nicht Christum (obschon natürlich alles von Ihm abhängig ist) oder den frommen Juden in der Mitte der abtrünnigen Gemeinde. Wohl sehen wir Jerusalem eingenommen, es wird Bezug genommen auf Bündnisse und frühere Rettungen Israels, mit einem Wort, es ist die Geschichte des Volkes oder Prophezeiung bezüglich der Umstände, die das Volk als solches betreffen; aber alles ist äußerlich. Es handelt sich nicht um innere Prüfungen, die Christum veranlassen könnten, persönlich auf den Schauplatz zu treten, außer wenn er die Versammlung empfängt (Ps 75, 2); gleichwohl werden die Gottesfürchtigen in Israel unterschieden. Auch wird nicht auf Jehova Bezug genommen (es sei denn im Vorausblick auf die Zukunft, wenn Israel in den neuen Bund treten wird), bis zu dem Gericht über die letzte Vereinigung, durch das Jehova als Herr der ganzen Erde bekannt werden wird. Ich glaube wohl, dass diese Psalmen die Juden, die zwei Stämme, nicht ausschließen – sie bilden einen Teil von Israel, und in Juda wird Jehova in jenen Tagen offenbart werden; doch handelt es sich hier geschichtlich um ganz Israel, Joseph eingeschlossen, mit einem Wort, um die Nation. In unserem Psalm wird Gott als der Hirte Israels angerufen, der Joseph wie eine Herde leitet und zwischen den Cherubim thront. Auch hier haben wir wieder Israel in geschichtlichem Sinne, nicht Gott, der vom Himmel herab ruft oder kommt. Er wird durch den Glauben nur gesehen, wenn Er da ist, wenn Er Seinen Platz in Israel eingenommen hat.
Unser Psalm ist besonders beachtenswert. Der Psalmist sieht Gott in Israel, Sein Thron ist mit Recht da, und er erwartet, dass Gott hervorstrahle, dass Er Seine Macht erwecke und zu ihrer Rettung komme. Er erinnert Ihn daran, wie bei dem Israel vor alters, wenn das Lager in der Wüste auf dem Marsche war, Ephraim, Benjamin und Manasse sich unmittelbar bei der Bundeslade befanden, hinter der Stiftshütte, und wie das Heiligtum unmittelbar vor ihnen herzog (4. Mo 10). Das war Jehova, der Gott der Heerscharen. Der Glaube wartet auf Seine Gegenwart in Macht bei Seinem Volke, so wie es damals der Fall gewesen war. Die rührende und dringende Bitte des Glaubens ist: „Bis wann raucht dein Zorn wider das Gebet deines Volkes?“ Das sind hier die Gedanken und die Sprache des Glaubens. Der aus Ägypten geholte Weinstock ist verwüstet, seine Mauern sind niedergerissen, wie Jehova ihnen angedroht hat. Tränen sind der Trank des Volkes Jehovas. Sie flehen zu Gott, dass Er vom Himmel herabschauen und diesen Weinstock heimsuchen möge, das Reis, das Gott für Sich gestärkt hatte; damit ist, denke ich, die Familie Davids gemeint. Doch der Zustand Israels ist eine Strafe von Seiten Gottes. Weiter erwartet der Glaube, dass die Hand der göttlichen Macht auf dem Manne Seiner Rechten, d. i. dieser Macht, sei, auf dem Menschensohne, den Gott für Sich gestärkt hat. Diese Stelle, und nicht allein Daniel 7 (wo dem Menschensohne nur ein besonderer Platz angewiesen wird), lässt uns verstehen, warum der Herr Sich gewöhnlich den Titel „Sohn des Menschen“ beilegt. Obwohl Er damals verworfen wurde, ist Er doch Derjenige, auf dem Gottes Rechte in Macht ruhen soll 1. Auf diese Weise sollte das Volk Jehovas bewahrt werden. Inhalt und Zweck der Bitte in diesem Psalm ist das Einschreiten der Macht von Seiten Jehovas, des Gottes Israels, und das Legen der Macht auf den Sohn des Menschen. Dieses Flehen wird durch die große Drangsal in Israel hervorgerufen, doch Jehova wird erwartet, und der Glaube versetzt Ihn in die Mitte Israels. Wenn Er sie so besuchen würde, wollten sie nicht von Ihm abweichen; wenn Er sie aus dem Staube wiederbelebt, werden sie Seinen Namen anrufen (vgl. das in Psalm 2 über den Messias Gesagte).
Die Verse 3, 7 und 19 zeigen, was begehrt wird; doch ist es eine äußere Befreiung, die man erwartet. Vers 17 erfordert besondere Beachtung aus dem schon erwähnten Gesichtspunkt, indem er zeigt, was in dem Herzen des Herrn war, als Er das gänzlich Unerwartete vorstellte, dass dieser Sohn des Menschen leiden müsse. Psalm 8 gibt uns bekanntlich den Schlüssel dazu in den Vorsätzen Gottes, sowohl betreffs der Erniedrigung und der Erhöhung als auch der Stellung des Menschen. Und diese Erniedrigung war es, die der Herr Seinen Jüngern immer wieder so ernstlich vorstellte. jetzt erwarten sie die Entfaltung der göttlichen Macht in Ihm. Die Versammlung und ihre Vereinigung mit Christo sowie die persönlich gekannte Annahme als Kind sind die einzigen Dinge, die ich in dem Alten Testament nicht offenbart finde. Alles, was Christum betrifft, war offenbart, vielleicht noch mit Ausnahme Seiner jetzigen Stellung als Priester. Weder das eine noch das andere dieser Dinge wird unter den Titeln, die in dem ersten Kapitel des Evangeliums Johannes Christo beigelegt werden, erwähnt.
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PSALM 80
Während die Juden des Überrestes auf das Eingreifen Gottes warten, beten sie dreimal für die Wiederherstellung ihrer Nation (Ps 80,4.8.20 1). Sie verwenden in ihrem Gebet das bekannte Bild des Weinstocks für Israel und erinnern Ihn an seine wunderbare Fürsorge für sein Volk in der Vergangenheit (Ps 80,2–12). Doch verwirrt und erschüttert fragen sie auch, warum Er erlaubt hat, dass ihr Land von einem „wilden Eber“ (den unreinen heidnischen Armeen des Königs des Nordens) niedergetrampelt und mit Feuer verbrannt wurde (Ps 80,13–17). Weiterhin beten sie, dass die Hand Gottes auf dem Mann seiner rechten Hand (dem Messias) sei, wohlwissend, dass ihre einzige Hoffnung auf Wiederherstellung in Ihm besteht (Ps 80,18.19).