IV. Buch IV
( Ps 90-106 )
Diese 17 Psalmen tragen mit Ausnahme von drei Psalmen keinen Verfassernamen. Ps 90 stammt von Mose, Ps 101 und 103 von David.
Ps 90
Der Psalmist stellte die Ewigkeit Gottes der Vergänglichkeit des Menschen gegenüber und bekannte, daß die Tage des Menschen durch Gottes Zorn schnell dahingehen. Er betete, daß Gott in seiner Barmherzigkeit seinem Volk bei dessen Werken Erfolg und Freude in seinen Sorgen schenken möge.
Der Psalm ist laut seiner Überschrift "ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes" (vgl. 5Mo 33,1 ). Der unmittelbare Anlaß für die Abfassung ist uns nicht bekannt. Man könnte jedoch die Zeit der Wüstenwanderung, wobei eine ganze Generation der Israeliten in der Wüste umkam, als Hintergrund für diesen Psalm annehmen. Mit Mose als Autor ist Ps 90 der älteste Psalm überhaupt.
A. Die Vergänglichkeit des Menschen
( 90,1-12 )
Dieser Abschnitt des Psalms bietet eine Gegenüberstellung von Gott und Mensch und gibt die Antwort, die aus dieser Gegenüberstellung folgt.
Ps 90,1-6
Diese Verse sprechen von der Verschiedenheit zwischen dem ewigen Gott und dem begrenzten Menschen. Demütig erkannte der Psalmist an, daß Gott die ewige Wohnung des Heiligen ist (d. h. ihr Schutz), denn er besteht von Ewigkeit zu Ewigkeit (V. 1-2 ). In allen Generationen haben die Menschen zu ihm Zuflucht genommen. (Das hebr. Wort für Welt , TEBEl , V. 2 , ein poetisches Synonym für Erde, steht für den Teil der Erde, der etwas hervorbringt. Dieses Wort wird im Buch der Psalmen sehr häufig gebraucht.) Aber der Herr, der zeitlich nicht begrenzt ist (V. 3-4 ), löscht die Sterblichen ( Menschen ist die Übersetzung von ?MnNS , "schwacher Mensch") aus. Das Wort für Dampf ( dakkA? , von dAkA? , "vernichten") wird im AT nur an dieser Stelle gebraucht und bedeutet, daß etwas wie ein Dampf zerstäubt wird.
Eine Nachtwache (vgl. Ps 63,7 ) dauerte etwa vier Stunden ( Ri 7,19 bezieht sich auf die mittlere Nachtwache, wenn man von drei Wachperioden ausgeht). So ein Teil der Nacht ist kurz, wenn man schläft.
Der Mensch ist wie das Gras, das in der Hitze des Tages verdorrt (vgl. Ps 37,2;102,5.12;103,15-16; Jes 40,6-8 ) - Gott läßt sie zum Tod dahinfahren ( Ps 90,5-6 ). Das Leben des Menschen ist im Vergleich zum ewigen Gott vergänglich und kurz.
Ps 90,7-12
Das Leben des Menschen ist aufgrund des Zornes Gottes gegen die Sünde vergänglich. Der Psalmist sagte, daß der Mensch durch den Zorn Gottes vergeht, denn er sieht die Sünden der Menschen; auch die sogenannten verborgenen Sünden liegen vor ihm offen. Weil der Mensch ein Sünder ist, verbringt er sein Leben unter dem Zorn Gottes, und sein Leben ist stark beschränkt - auf 70 Jahre (manche Menschen leben ein paar Jahre länger) - und das Leben fliegt eilig dem Tode entgegen wie ein Vogel (vgl. Hi 20,8 ). Keiner kann den mächtigen Zorn Gottes ergründen ( Ps 90,11 ).
Weil das Leben so kurz ist und weil wir es in Sünde im Angesicht des Zornes Gottes verbringen, erbat sich der Psalmist, der Stellvertreter des Volkes Gottes, Weisheit von Gott, auf daß die Menschen ihre Tage zählten (vgl. Ps 39,5 ), d. h. die Menschen einsehen, wie wenige Tage sie nur zu leben haben (vgl. Ps 39,6-7 ). (Der Ausdruck unsere Tage taucht in Ps 90,9-10.12.14 und der Begriff "Tage" in V. 15 auf.)
B. Gottes Erbarmen
( 90,13-17 )
Ps 90,13-15
Der Psalmist bat den Herrn, sich über seine Knechte zu erbarmen (vgl. V. 16 ). Das war ihre einzige Hoffnung.
Der Herr sollte durch sein Erbarmen über sein Volk ihre Sorge in Freude wenden (vgl. V. 10 ). Wenn Gott dem Volk seine treue Liebe ( HeseD ) schenkte, konnte es alle Tage jubeln. Der Psalmist bat Gott, das Volk so lange jubeln zu lassen, wie er es dem Elend ausgeliefert hatte. Vers 14-15 scheinen nahezulegen, daß das Volk eine besonders schlimme Zeit der Züchtigung um seiner Sünde willen durchmachte, eine "Nacht" voller Bedrängnis. Der Morgen deutet eine neue Zeit der Freude für Gottes Volk an.
Ps 90,16-17
Der Psalmist bat fernerhin darum, daß Gott doch seine Herrlichkeit (vgl. den Kommentar zu Ps 29,2 ) und seine Gnade seinen Knechten (vgl. Ps 90,13 ) zeigen und sie nicht in seinem Zorn verzehren möge. Dann hätten sie Erfolg in ihrem Tun, auch wenn ihr Leben nur kurz wäre.
Wenn Gott einen Menschen um seiner Sünde willen verwirft, dann empfindet dieser ganz deutlich seine Schwachheit und Vergänglichkeit. Aber wenn er die Gnade Gottes erlebt, dann erfährt der Mensch echte Wertschätzung; er hat Anteil am Wirken des ewigen Gottes. Wer die Züchtigung Gottes erlebt, der ist sich ganz und gar bewußt, daß er ein sterblicher Mensch ist; wer an der Liebe und dem Erbarmen Gottes festhält, der weiß, daß er mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt wird (vgl. Ps 8,6-9 ).
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PSALM 90
Der erste Psalm dieses Buches, Psalm 90, stellt also das Volk, d. h. den gläubigen, frommen Teil desselben, auf den Boden des Glaubens an Jehova und gibt dem Sehnen nach Befreiung und Segnung durch Seine Hand Ausdruck. Zunächst erkennt der gläubige Israelit Jehova an als die Wohnung Israels von Geschlecht zu Geschlecht, als ihre Zuflucht und Heimat. Sodann war Er der ewige Gott, ehe die Welt war, und Er lässt den Menschen kommen und gehen in einem Augenblick, wie es Ihm gefällt; für Ihn gibt es keine Zeit. Israel war verzehrt worden durch seinen Grimm. Doch das war noch nicht alles; obwohl Seine Macht unumschränkt war, handelte Er doch nicht nach Willkür, sondern Seine Wege waren der Ausdruck einer wahren und heiligen sittlichen Regierung. Und so finden wir in unserem Psalm nicht nur ein unumwundenes Bekenntnis offenbarer Sünden und Fehltritte, sondern die Anerkennung der heiligen Regierung Gottes, die auch das verborgene Tun des Menschen vor das Licht Seines Angesichts stellt (denn so handelt Gott, Ihm sei Dank dafür, dass Er es tut!); ihre Tage schwanden dahin durch Seinen Grimm. Aber sie wünschen, dass der Stolz ihres Herzens dadurch gebrochen werde und sie ihrer Schwachheit und Sterblichkeit eingedenk sein mögen, damit alle Selbstzufriedenheit, die dem natürlichen Herzen so eigen ist, für immer abgetan sei und das Herz sich der Weisheit, der Furcht Gottes, zuwende. Dass der Mensch so an seinen wahren Platz gestellt und Gott Sein Platz eingeräumt wird, und zwar in Verbindung mit einem Glauben, wie derjenige Israels an Jehova, das ist reich an Unterweisung im Blick auf die moralische Stellung, die sich für den Überrest in den letzten Tagen geziemt; dem Grundsatz nach ist es stets wahr. So schaut also der Überrest nach Jehova aus, dass Er zurückkehre und sie befreie – der Glaube fragt: bis wann? – und dass Seinen Knechten Sein Tun erscheinen möge, wie auch die Prüfung von Ihm gekommen war; ja, dass die Huld Jehovas, ihres Gottes, über ihnen sein und das Werk ihrer Hände durch Ihn befestigt werden möge. Es ist wahrer Glaube infolge der Beziehung zu Gott, jedoch zu Gott als dem Höchsten in Seiner heiligen Regierung auf Erden; als solcher aber ist Er der Gott Israels.
PSALM 90
Dieser Psalm gibt das Gebet der Gläubigen des gottesfürchtigen Überrestes wieder, als diese mitansehen müssen, wie das Volk aufgrund der Umstände der Drangsal wegstirbt. In dem Wissen, es mit dem ewigen Gott zu tun zu haben, wird ihnen bewusst, wie die Menschenkinder „zum Staub zurückkehren“ (Ps 90,1–6). Sie erkennen, dass Sünde der Grund für den Tod ist. Vergleiche Römer 5,12 („durch die Sünde der Tod“). Unter dem Eindruck, dass auch sie selbst jederzeit „abgemäht werden und verdorren“ könnten, entwickeln sie den Wunsch, ihre Tage zu zählen und sie weise für Gott zu verwenden (Ps 90,7–12). Dies führt sie dahin, den Herrn anzurufen, damit Er zurückkehre und sie befreie (Ps 90,13–17).