KAPITEL II
DIE GESCHICHTE DER AUSLEGUNG
Da der Streit zwischen Prämillenialisten und Amillenialisten ganz entscheidend auf
unterschiedlichen Auslegungsverfahren beruht, ist es notwendig die geschichtliche Entwick-
lung dieser beiden hermeneutischen Methoden, die grundlegend für die wörtliche und
allegorische Auslegung sind, zu untersuchen, um so die Autorität der wörtlichen Methode
zu erweisen.
I. Ursprung der Auslegung
Alle Studenten, die sich mit der Geschichte der Hermeneutik befassen, stimmen grund-
sätzlich darin überein, daß die Auslegung mit der Rückkehr Israels aus der babylonischen
Gefangenschaft unter Esra begann (s. Neh.8,1-8). Auslegung war damals vor allem deshalb
notwendig, weil das mosaische Gesetz für lange Zeit vergessen und vernachlässigt worden
war. Als Hilkija während der Regierungszeit Josias das verlorengegangene
"Buch des Gesetzes" fand, erlangte es noch einmal für kurze Zeit Bedeutung, um dann während der
Zeit des Exils erneut in Vergessenheit zu geraten1. Auslegung war darüber hinaus erforder-
lich, weil die Juden während des Exils ihre Muttersprache verlernten und Aramäisch zu
sprechen begannen, so daß sie nach ihrer Rückkehr die Schrift nicht mehr lesen und
verstehen konnten2. Esra mußte den Menschen die vergessenen und unverständlich gewor-
denen Schriften erklären. Es wird wohl kaum jemand in Zweifel ziehen, daß Esra das, was
einst niedergeschrieben worden war, wörtlich auslegte.
II. Jüdische Auslegung des Alten Testamentes
Dieselbe wörtliche Auslegung war charakteristisch für die Auslegung des Alten Testa-
mentes. Hieronymus, der die strikte wörtliche Auslegungsmethode ablehnte, "bezeichnet die
wörtliche Auslegung als 'jüdisch' und läßt damit erkennen, daß ihr dies leicht den Vorwurf
der Ketzerei eintragen würde. Wiederholt sagt er, da sie der 'spirituellen' Auslegung
unterlegen sei.3 Offensichtlich machte Hieronymus keinen Unterschied zwischen wörtli-
cher Methode und jüdischer Auslegung.
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1 Vgl. F.W. Farrar, History of Interpretation, Seiten 47-48.
2 Vgl. Bernard Ramm, Protestant Biblical Interpretation, Seite 27
3 Parrar, a.a.O., Seite 232.
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Später gewannen die Rabbinen, die die Autorität der Priester und des Königs auf sich
vereinigten, einen solch großen Einfluß auf die jüdische Nation. Die rabbinischen Schriftge-
lehrten verwandten eine sehr streng wörtliche Auslegungsmethode, die eine geistliche
Deutung des Gesetzes auch dann verhinderte, wenn diese erforderlich gewesen wäre1. Daß
die Rabbinen zu falschen Schlußfolgerungen gelangten, lag nicht an der wörtlichen Metho-
de als solcher, sondern an deren überzogener Anwendung, die dazu führte, daß jede
Deutung abgelehnt wurde, die über den bloßen Buchstaben des Gesetzes hinausging.
Nachdem Briggs die dreizehn Deuteregeln der rabbinischen Auslegung zusammengefaßt
hat, meint er:
Einige der Regeln sind exzellent und hinsichtlich ihrer praktischen Logik unbestritten.
Der Fehler der rabbinischen Exegese lag weniger in ihren Regeln als in deren Anwen-
dung, obwohl auch in den Regeln latente Irrtümer unschwer zu erkennen sind und diese
nicht genügend vor falscher Argumentation bewahren. (Hervorhebund durch J.D.Pente-
CoSt)2
Es kann festgehalten werden, daß die Rabbinen trotz aller Irrtümer eine wörtliche
Methode der Auslegung anwandten.
III. Wörtliche Auslegung (Literalismus) zur Zeit Christi
a) Literalismus unter der Juden
Die vorherrschende Methode der Auslegung unter den Juden zur Zeit Christi war ohne
Zweifel die wörtliche Methode.Dazu Horne:
Es kann historisch nicht nachgewiesen werden, daß die allegorische Auslegung der
heiligen Schriften seit der Zeit der babylonischen Gefangenschaft unter den Juden vor-
herrschte oder daß sie bei den Juden Palästinas zur Zeit Christi und seiner Apostel
üblich war.
Obwohl der Sanhedrin und die Hörer Jesu sich oft auf das Alte Testament bezogen, ist
bei ihnen, und selbst bei Josephus, von einer allegorischen Deutung nichts zu erkennen.
Dagegen begannen die zur platonischen Philosophie neigenden Juden Ägyptens im ersten
Jahrhundert das Alte Testament allegorisch auszulegen, darin die heidnischen Griechen
nachahmend. Ein hervorragender Vertreter dieser Juden war Philo von Alexandrien. Er
arbeitete mit dieser Methode und verteidigte sie als etwas Neues, zuvor Unbekanntes und
geriet so in Opposition zu anderen Juden. Da unter den Juden Palästinas in der Zeit, in
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1 Vgl. ebd. Seiten 60-61.
2 Charles Augustus Briggs, General Introduction to the Study of Holy Scripture, Seite 431.
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der Jesus lehrte, sicherlich nicht die allegorische Methode dominierte, war Jesus nicht
gezwungen, sich einem allegorischen Auslegungssystem anzupassen.1
Mit dieser Position stimmen die heutigen Amillenialisten im wesentlichen überein2. Case,
ein leidenschaftlicher Befürworter des Amillenialismus, räumt ein:
Unzweifelhaft verkündeten die hebräischen Propheten des Altertums die Ankunft des
schrecklichen Tages des HERRN, an dem die alte Ordnung aller Dinge plötzlich hinweg-
getan werden würde. Spätere Propheten sagten für die Verbannten einen Tag der Wie-
derherstellung voraus, an dem die ganze Natur auf wunderbare Weise verändert und das
vollkommene Königreich Davids errichtet werden würde. Die Seher späterer Zeiten
zeichneten das Bild einer kommenden, wahrhaft herrlichen Herrschaft Gottes. Während
dieser Zeit würden die Getreuen an den Segnungen des Tausendjährigen Reiches teilha-
ben. Die ersten Christen erwarteten die baldige Wiederkunft Christi auf den Wolken des
Himmels, so wie sie Ihn in ihren Visionen buchstäblich in den Himmel hatten auffahren
sehen. ... Mit Blick auf den Gebrauch einer solchen Bildersprache mag sich der Millenia-
lismus durchaus zu Recht als biblisch bezeichnen. So steht außer Frage, daß gewisse
biblische Schreiber mit einem katastrophalen Ende der Welt rechneten. Sie schilderten,
daß die Zeit der großen Trübsal der endgültigen Katastrophe unmittelbar vorausgehen
würde. Sie verkündigten die augenscheinliche Wiederkunft des himmlischen Christus, und
sie erwarteten sehnsüchtig die Offenbarung des Neuen Jerusalem.
Jeder Versuch, diese die biblischen Bilder charakterisierende Wörtlichkeit zu umgehen,
ist zwecklos. Seit Origines haben immer wieder einige Schriftausleger versucht, die
Erwartung eines Tausendjährigen Reiches zu widerlegen, indem sie kräftig behaupteten,
daß selbst die allereindeutigsten Erklärungen zur Wiederkunft Jesu sinnbildlich ver-
standen werden müßten. Es wurde auch erklärt, daß Daniel und die Offenbarung weitge-
hend mystische und allegorische Werke seien, die keinen Bezug zu tatsächlichen Ereignis-
sen der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft herstellen wollten, sondern, ähnlich wie
Miltons "Das verlorene Paradies" und Bunyans "Die Pilgerreise", eine rein geistliche
Bedeutung hätten.
Dies sind Einfälle, die die Schrift mit den heutigen Gegebenheiten in Einklang bringen
wollen, die aber die lebendige Erwartung der damaligen Zeit ignorieren. Die gepeinigten
Juden der Makkabäerzeit ersehnten nicht ein sinnbildliches, sondern ein tatsächliches
Ende ihrer Nöte, und Daniel versprach ihnen nichts weniger als die tatsächliche Errich-
tung eines neuen himmlischen Reichs. In einem ähnlich realistischen Stil schrieb einer
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1 Thomas Hartwell Horne, An Introduction to the Critical Study and Knowledge of the Holy Scriptures, Seite 324.
2 Vgl. Floyd Hamilton, The Basis of Millennial Faith, Seiten 38-39; Oswald T. Allis, Prohecy and the Church. Seite 258.
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der ersten Christen: "Und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten
der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels" (Mk. 14,62), oder an einer anderen
Stelle, "Es sind etliche von denen, die hier stehen, welche den Tod nicht schmecken
werden, bis sie das Reich Gottes, in Macht gekommen, gesehen haben" (Mk.9,1). Wie ge-
schockt wäre Markus wohl gewesen, hätte man ihm mitgeteilt, daß seine Erwartung
bereits mit den Erscheinungen Jesu nach der Auferstehung, in den ekstatischen Erfah-
rungen der Jünger zu Pfingsten oder in der Erlösung einzelner Christen bei deren Tod
Wirklichkeit geworden wäre. Und was würde Markus erst empfunden haben, wenn man
ihm einige moderne Vergeistigungen mitgeteilt hätte, so z.B., daß sich seine Vorhersage
der Wiederkunft Christi durch die Reformation Luthers, die Französische Revolution, die
Erweckungsbewegung Wesleys, die Befreiung der Sklaven, die Zunahme der weltweiten
Missionierung, die Demokratisierung Rußlands oder durch den Ausgang des gegen-
wärtigen Weltkrieg erfüllt hätte. Prämillenialisten haben in ihrem Protest gegen ihre
Opponenten völlig recht, wenn diese einschlägige biblische Passagen allegorisch deuten
oder vergeistigen, um so schriftgemäße Ausdrücke beibehalten zu können, dabei aber
deren ursprüngliche Bedeutung gänzlich verdrehen.1
Niemand wird behaupten wollen, daß der Literalismus der jüdischen Ausleger mit der
heutigen grammatikalisch-historischen Auslegung identisch wäre. Ein dekadenter Literalis-
mus hatte die Bedeutung der ganzen Schrift verdreht. Ramm beschreibt treffend:
...das Ergebnis einer guten Bewegung, die mit Esra begonnen hatte, war eine degene-
rierte überzogen-wörtliche Auslegung, die in den Tagen Jesu und Paulus' unter den
Juden allgemein üblich war. Der jüdische Literalismus war so überzogen, daß der wahre
Textsinn bei seiner Auslegung verlorenging. Er betonte in hohem Grad das Beiläufige
und Unwesentliche, während er das Wesentliche ignorierte und außer acht ließ.2
Und dennoch kann nicht geleugnet werden, daß die wörtliche Methode die akzeptierte
Methode war. Der Mißbrauch der Methode, läßt sich nicht gegen die Methode als solche
ins Feld führen. Nicht die Methode sondern ihre Anwendung war falsch.
b) Literalismus unter den Aposteln
Die wörtliche Methode war die Methode der Apostel. Farrar sagt:
Die geläuterte jüdische Lehre, wie sie im Christentum vor uns tritt, nimmt die Lehren der
alten Haushaltung wörtlich, sieht aber in ihnen den Keim und die Vorschattung zukünfti-
ger Entwicklungen, wie es Paulus tat. Obwohl Paulus einmal eine Allegorie zur Illustra-
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1 Shirley Jackson Case, The Millennial Hope, Seiten 214-216.
2 Ramm, a.a.0., Seite 28.
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tion benutzt, hat Christus deren Gebrauch niemals gutgeheißen und keiner der anderen
Apostel hat Allegorien je angewandt.1
Ein so befähigter Gelehrter wie Girdlestone bestätigt dies und schreibt:
Wir kommen zu dem Schluß, daß es eine einheitliche Methode gab, die die Schreiber des
Neuen Testamentes gewöhnlich benutzten, wenn sie die hebräischen Schriften auslegten
und anwandten. Es ist gerade so, als ob sie alle zu einer Schule gehört und beim glei-
chen Lehrer studiert hätten. Aber war dies die rabbinische Schule? Waren sie Gamaliel,
Hillel oder irgendeinem anderen Rabbi zu Dank verpflichtet? Das gesammelte Wissen
über die damals übliche Art zu lehren, läßt uns diese Fragen verneinen. Der Herr Jesus
Christus und kein anderer war die eigentliche Quelle dieser Methode. Auf diesem Gebiet,
wie auch auf vielen anderen, war er als Licht in die Welt gekommen.2
Selbst ein Liberaler wie Briggs anerkannte, daß Jesus weder die damals übliche Methode
benutzte, noch den Irrtümern Seiner Generation aufsaß. Er sagt:
Die Apostel und ihre Jünger im Frühchristentum benutzen eher die Methoden des Herrn
Jesus als die anderer Männer ihrer Zeit. Was nun die Richtungen ihrer Gedanken
betrifft, unterscheiden sich die Schreiber des Neuen Testamentes untereinander ...,
bei allen aber setzen sich die Methoden des Herrn Jesus gegenüber den anderen Methoden
durch und adeln diese.3
Es bestand für die Apostel weniger die Notwendigkeit, sich eine andere Methode an-
zueignen, um das Alte Testament richtig zu verstehen, als vielmehr die bestehende Methode
von ihren Extremen zu reinigen.
Da im Neuen Testament einzig Paulus' Erklärung der Allegorie in Gal.4,24 für einen
allegorischen Gebrauch des Alten Testamentes angeführt werden kann und da wir oben
bereits gezeigt haben, daß zwischen dem Erklären einer Allegorie und der Anwendung der
allegorischen Auslegungsmethode zu unterscheiden ist, muß geschlußfolgert werden, daß
die Schreiber des Neuen Testamentes das Alte Testament wörtlich auslegten.
IV. Aufstieg der allegorischen Methode
Die Schreiber des ersten Jahrhunderts waren geradezu von Schwierigkeiten überhäuft. Sie
verfügten weder über einen etablierten Kanon des Alten noch des Neuen Testamentes. Sie
waren auf eine fehlerhafte Übersetzung der Schriften angewiesen. Sie hatten lediglich die
———
1 Farrar, a.a.O., Seite 217.
2 R.B. Girdlestone, The Grammar of Prophecy, Seite 86.
3 Briggs, a.a.O., Seite 443.
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Auslegungsregeln der rabbinischen Schulen kennengelernt und mubten sich daher zunächst
von einer falschen Anwendung dieses Auslegungsprinzips befreien. Sie waren umgeben von
Heidentum, Judentum und Häresien jedweder Art.1 Aus diesem Irrgarten erwuchsen in der
späten Periode der Kirchenväter drei verschiedene exegetische Schulen. Farrar schreibt:
Die Kirchenväter des dritten Jahrhunderts und der späteren Jahrhunderte kann man drei
exegetischen Schulen zuordnen: Die wörtliche und realistische Schule wurde vor allem
durch Tertullian repräsentiert; hervorragender Exponent der allegorischen Schule war
Origenes, während Theodor von Mopsuestia als anerkanntes Haupt der historisch-
grammatikalischen Schule galt, die hauptsächlich in Antiochien blühte.2
Farrar, der den Aufstieg der allegorischen Schule zurückverfolgt, geht zurück bis auf
Aristobulus, über den er schreibt, daß sein
....Werk von sehr großer Bedeutung für die Geschichte der Auslegung war. Er ist einer
der Vorläufer Philos, obwohl er von diesem nicht erwähnt wird. Er ist der erste, der zwei
Thesen formuliert, die schließlich große Akzeptanz finden und die auf dem Gebiet der
Exegese zu vielen falschen Auslegungen führen sollten.
In der ersten These behauptet er, daß die griechische Philosophie dem Alten Testament
und hier insbesondere dem mosaischen Gesetz entlehnt sei. Die andere These stellt fest,
daß alle Lehrsätze der griechischen Philosophen und vor allem die des Aristoteles sich
bei Mose und den Propheten wiederfinden, wenn nur die richtige Untersuchungmethode
angewandt wird.3
Philo übernahm dieses Konzept des Aristobulus und versuchte das mosaische Gesetz mit
der griechischen Philosophie zu versöhnen, um so das mosaische Gesetz für griechisches
Denken annehmbar zu machen. Gilbert schreibt:
(Für Philo) entsprach die griechische Philosophie der Philosophie Moses... Er wollte die
Harmonie zwischen jüdischer Religion und klassischer Philosophie darlegen und illu-
strieren; letzten Endes war es sein Ziel, die jüdische Religion der gebildeten griechischen
Welt zu empfehlen. Das war die hohe Mission, zu der er sich berufen fühlte. Aus diesem
Grund legte er die hebräischen Gesetze in der Sprache der Kultur und Philosophie der
antiken Welt aus.4
Um nun diese Harmonie zu erreichen, mußte sich Philo bei der Auslegung der Schrift der
allegorischen Methode bedienen.
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1 Farrar, a.a.O., Seiten 164-165.
2 Ebd. Seite 177.
3 Ebd. Seite 129.
4 George Holley Gilbert, The Interpretation of the Bible, Seiten 37ff.
———
Der Einfluß Philos war vor allem in der theologischen Schule von Alexandrien mit
Händen zu greifen. Farrar schreibt:
Es war die große katechetische Schule von Alexandrien - der Überlieferung nach von
Markus gegründet - die mit einem Mal zur bedeutendsten Schule christlicher Exegese
wurde. Sie wollte, wie zuvor Philo, Philosophie und Offenbarung vereinen, um so mit den
entlehnten Juwelen Agyptens das Heiligtum Gottes zu schmücken. Damit standen Clemens
von Alexandrien und Origenes in direktem Gegensatz, zu Tertullian und Irenäus
Der erste Lehrer dieser Schule, der zu Ansehen gelangte, war der ehrwürdige Pantä-
nus, ein konvertierter Stoiker, von dessen Schriften uns nur ein paar Fragmente erhalten
geblieben sind. Ihm folgte Clemens von Alexandrien, der - vom göttlichen Ursprung der
griechischen Philosophie überzeugt - freimütig lehrte, daß die ganze Schrift allegorisch
zu verstehen sei.1
In dieser Schule entwickelte Origenes eine Methode zur allegorischen Deutung der Schrift.
Schaff, ein unvoreingenommener Zeuge, faßt Origenes' Einfluß wie folgt zusammen:
Origenes war der erste, der in Anlehnung an die allegorische Methode des jüdischen
Platonisten Philo, eine formale Auslegungstheorie vorlegte, die er mit bemerkenswertem
Fleiß und Scharfsinn in einer langen Serie exegetischer Werke zur Anwendung brachte,
wobei aber die handfesten Ergebnisse dieser Arbeit eher dürftig waren. Er hielt die Bibel
für einen lebendigen Organismus, der drei Elemente enthalte, die gemäß der platonischen
Psychologie den Leib, die Seele und den Geist des Menschen ansprächen. Dement-
sprechend legte er der Schrift einen dreifachen Sinn bei: (1) einen körperlichen, wörtli-
chen oder historischen Sinn, der sich unmittelbar aus der jeweiligen Wortbedeutung
ergebe, aber lediglich als Vehikel für eine höhere Idee diene; (2) einen seelischen oder
moralischen Sinn, der den wörtlichen Sinn belebe und grundsätzlich zur Erbauung diene;
(3) einen geistigen oder mystischen und vollkommenen Sinn, für alle, die sich auf der
hohen Stufe philosophischer Erkenntnis befänden. Bei der Anwendung dieser Theorie kam
er durch Vergeistigen immer mehr vom Buchstaben der Schrift ab, schlug also dieselbe
Richtung wie Philo ein....anstatt ganz einfach den Sinn eines Bibeltextes herauszu-
arbeiten, las er alle möglichen fremden Ideen und unbedeutenden Phantastereien hinein.
Aber dieses Allegorisieren traf den Geschmack der damaligen Zeit. Mit seinem schöpferi-
schen Geist und seiner imponierenden Gelehrsamkeit war Origenes die exegetische
Autorität der frühen Kirche, bis schließlich seine Orthodoxie in Mißkredit geriet.2
Ein starker Impuls für die Annahme der allegorischen Methode war der Aufstieg des
Kirchentums und das Besinnen auf die Autorität der Kirche in allen lehrmäßigen Fragen.
———-
1 Farrar, a.a.O., Seiten 182-183.
2 Philip Schaff, History of the Christian Church, II, 521.
————
Augustinus war - so Farrar - einer der ersten, der die Schrift der Auslegung der Kirche
anpaßte.
Die Exegese von Augustinus ist durch die alleroffenkundigsten Fehler gekennzeichnet...
Er erließ die Regel, daß die Bibel unter Berücksichtigung der kirchlich vertretenen Lehre
auszulegen sei, und daß jeder Ausdruck der Schrift mit allen anderen in Einklang stehe....
Indem er die seit Generationen immer wieder vorgetragene Regel Philos und der
Rabbinen aufgriff, daß alles in der Schrift, das in irgendeiner Weise unorthodox oder
unmoralisch erscheine, mystisch auszulegen sei, schwächte er seine eigene Lehre von der
übernatürlichen Inspiration, gab er doch zu, daß viele "vom Heiligen Geist geschriebene"
Abschnitte abzulehnen wären, wenn man sie in ihrem offensichtlichen Sinn zu verstehen
hätte. Darüber hinaus öffnete er willkürlicher Phantasie die Tür.1
Und weiter:
...Wenn wir uns erst einmal für das allegorische Prinzip entschieden haben, wenn wir
erst einmal die Regel anerkannt haben, daß ganze Abschnitte, ja, Bücher, der Schrift von
einer bestimmten Sache reden, während sie eine ganz andere meinen, dann ist der Leser
auf Gedeih und Verderb den Launen des Auslegers ausgeliefert. Außer den Diktaten der
Kirche bleibt ihm rein gar nichts, dessen er sich sicher sein kann. Nun wurde die
Autorität "der Kirche" zu allen Zeiten fälschlich für die anmaßende Tyrannei falscher
herrschender Meinungen in Anspruch genommen. In den Tagen des Märtyrers Justin und
des Origenes waren die Christen durch eine zwingende Notwendigkeit zur allegorischen
Auslegung getrieben worden. Sie war das einzige ihnen bekannte Mittel, um das Evange-
lium mit einem Schlag von den Fesseln des Judaismus zu lösen. Sie benutzten sie, um
fanatische Ketzer zu widerlegen, denen sie primitives Festhalten am Buchstaben vor-
warfen, und um die philosophischen Lehren mit den Wahrheiten des Evangeliums in
Einklang zu bringen. Aber zur Zeit Augustinus' war diese Methode dazu verkommen,
Erfindungsreichtum zur Schau zu stellen und das Kirchentum zu unterstützen. Sie war zur
Quelle eines Unglaubens geworden, der sich weigerte, die Schwierigkeiten anzuerkennen,
die in den heiligen Schriften im Überfluß vorhanden sind, zur Quelle einer Unwissenheit,
die dafür erst gar nicht empfänglich war, und zum Ursprung einer Trägheit, die es
ablehnte, zur Lösung dieser tatsächlichen Schwierigkeiten beizutragen.
Zum Leidwesen der Kirche und zum Leidwesen jedes echten Begreifens der Schrift
siegten die Allegoristen trotz Protestes auf der gesamten Linie.2
———-
1 Farrar, a.a.O., 236-237.
2 Ebd., Seite 238.
———-
Die vorliegende Studie soll verdeutlichen, daß die allegorische Methode nicht aus dem
Studium der Schrift, sondern vielmehr aus dem Bestreben hervorging, die griechische
Philosophie und das Wort Gottes miteinander zu verbinden. Sie entstand nicht aus dem
Bestreben heraus, die Wahrheit des Wortes Gottes darzulegen, sondern um diese zu ver-
drehen. Sie war kein Kind der rechten Lehre, sondern des Irrglaubens.
Obwohl es Augustinus gelang, die neue Auslegungsmethode auf der Grundlage von
Origines' Ansatz der Schriftverdrehung in den Blutkreislauf der Kirche zu injizieren, gab
es auch in dieser Zeit solche, die nach wie vor an der ursprünglichen wörtlichen Methode
festhielten. So folgte die antiochenische Schule nicht der Methode, die von der alexandrini-
schen Schule eingeführt worden war. Gilbert notiert:
Theodor (von Mopsuestia) und Johannes Chrysostomus wandten bereits weitgehend eine
wissenschaftliche Methode der Exegese an, zumindest insoweit als sie klar die Notwen-
digkeit erkannten, den ursprünglichen Sinn der Schrift zu bestimmen, um diese überhaupt
mit Gewinn nutzen zu können. Es war eine große Leistung, daß sie dieses Ziel nie aus
den Augen verloren. Dadurch stand ihr Werk in starkem Gegensatz zu dem der alex-
andrinischen Schule. Ihre Auslegung war im Vergleich zu der des Origenes außerordent-
lich klar und einfach. Sie lehnten die allegorische Methode völlig ab.1
Zur Bedeutung und zum Einfluß dieser Schule bemerkt Farrar:
...die antiochenische Schule hatte für etwa ein Jahrtausend einen tieferen Einblick in die
wahre Methodik der Exegese als alle vorherigen oder nachfolgenden Schulen ...
ihr System glich sehr stark dem, das heute in den reformierten Kirchen überall in der Welt
Anwendung findet. Wenn die damals dominierende Orthodoxie dieses System nicht mit so
zornigen Worten gebannt und mit eiserner Hand vernichtet hätte, wären möglicherweise
die kirchlichen Kommentare durch das Studium antiochenischer Auslegungen und die
Ubernahme des zugrundeliegenden exegetischen Prinzips für Jahrhunderte vor Nutzlosig-
keit und Irrtümern bewahrt geblieben..
....Diodor von Tarsus muß als der eigentliche Gründer der Schule von Antiochien
angesehen werden. Er war ein Mann von außerordentlicher Gelehrsamkeit und un-
strittiger Frömmigkeit, der Lehrer Chrysostomus' und Theodors von Mopsuestia. ... In
seinen Büchern widmete er sich einer wörtlichen Auslegung der Schrift. Er schrieb eine
Abhandlung "Über den Unterschied zwischen Allegorie und geistlicher Einsicht", die
leider verlorengegangen ist.
Aber der fähigste, der entschiedenste und der konsequenteste Vertreter der Schule von
Antiochien war Theodor von Mopsuestia (* um 350, + 428). Dieser mit scharfem, origi-
nellem Verstand begabte Denker ragt wie ein "Fels aus dem Morast der Exegese des
Altertums"...Er war ein Original und kein Nachahmer, eine Stimme unter Tausenden
von Echos, die lediglich leere Worte widerhallen ließen. Er lehnte die Theorien Orige-
————
1 Gilbert, a.a.O., Seite 137.
—————
nes' ab, lernte aber von ihm, wie unerläßlich wichtig es ist, insbesondere bei der Aus-
legung des Neuen Testamentes sprachliche Details zu beachten. So achtete er sehr genau
auf Partikel, Modi, Präpositionen und auf die Wortwahl im allgemeinen. Es wies auf die
besonderen Eigenarten im Stil des Paulus hin ... Er war einer der ersten, der hermeneuti-
schen Fragen große Aufmerksamkeit widmete, so z.B. in seinen Einleitungen zum Ephe-
ser- und Kolosserbrief….. Sein größtes Verdienst war sein konstantes Bemühen, jeden Ab-
schnitt als ein Ganzes und nicht nur als "isolierte Anhäufung unterschiedlicher Texte" zu
studieren. Dabei konzentrierte er sich zunächst auf die Gedankenfolge eines Abschnittes,
dann auf die Wortwahl und die einzelnen Satzteile, um schließlich eine Exegese darzu-
bieten, die oft sehr tiefgehend war und den Kerngedanken brilliant traf.1
Die Geschichte der Auslegung wäre ganz anders verlaufen, wenn sich damals die
Methode der Schule von Antiochien durchgesetzt hätte. Zum Leidwesen einer rechten
Auslegung behauptete sich das Kirchentum der etablierten Kirche, welches zur Recht-
fertigung seiner Stellung auf die allegorische Methode angewiesen war, so daß die An-
schauungen der antiochenischen Schule als Ketzerei verdammt wurden.
V. Das Mittelalter
Wie man es vielleicht auch von diesem dunklen Zeitalter erwartet, wurden keine An-
strengungen zur sorgfältigen Schriftauslegung unternommen. Die übernommenen Prinzipien
der Auslegung blieben unverändert. Berkhof bemerkt:
In dieser Zeit wurde der Schrift allgemein ein vierfacher Sinn (wörtlich, metaphorisch,
allegorisch und analogisch) zugesprochen. Es wurde zum etablierten Prinzip, daß die
Auslegung der Bibel sich der Tradition und den Lehren der Kirche anzupassen hatte.2
Der Same des Kirchentums, den Augustinus gesät hatte, war aufgegangen. Es galt das
Prinzip, daß Auslegung mit den Kirchenlehren übereinstimmen müsse. Farrar faßt die
gesamte Periode zusammen:
... wir sind gezwungen zu sagen, daß es während des frühen Mittelalters - vom siebten bis
zum zwölften Jahrhundert - und während der scholastischen Epoche - vom zwölften bis
sechzehnten Jahrhundert - nur sehr wenige gab, die sich um die rechte Schriftauslegung
bemühten, die den bisherigen Prinzipien auch nur ein einziges wesentliches hinzufügten,
oder auch nur einen einzigen originellen Beitrag zur Erklärung des Wortes Gottes
leisteten. Während dieser neun Jahrhunderte finden wir wenig mehr als das "Verglimmen
und Vergehen" der Auslegung der Väter. Zwar wurde viel Zeit des Studiums, das es
————-
1 Farrar, a.a.O., Seiten 213-215.
2 Louis Berkhof, Principles of Biblical Interpretation, Seite 23.
—————
immer noch gab, für die Exegese oder für das, was man für Exegese hielt, verwandt,
aber nicht einer von hundert Autoren hatte eine klare Vorstellung von dem, was dem,
Exegese wirklich beinhaltet.1
VI. Die Reformation
Erst die Reformationszeit bringt wieder gesunde Exegese hervor. Man kann sagen, daß
die gesamte Reformation durch eine Rückkehr zur wörtlichen Methode der Schriftauslegung
angeregt wurde. Sie begann mit einigen Vorläufern, deren Einfluß zurück zur ursprüng-
lichen wörtlichen Methode führte. Dazu Farrar:
Lorenzo Valla (1405-1457) war eines der wichtigsten Bindegliede ... zwischen Renaissan-
ce und Reformation. Durch das Wiederaufblühen der Gelehrsamkeit hatte er gelernt, daß
die Schrift entsprechend der grammatikalischen und sprachlichen Gesetze auszulegen
ist.2
Erasmus war ein weiteres Bindeglied. Er legte großen Wert auf das Studium der Origi-
naltexte der Schrift und schuf die Grundlage für die grammatikalische Auslegung des
Wortes Gottes. Wir können ihn mit Farrar als den eigentlichen Begründer der modernen Text-
und Bibelkritik ansehen. Ihm gebührt für alle Zeiten ein Ehrenplatz unter den Auslegern
der Schrift.3
Die Übersetzer, die so viel geleistet haben, um das Feuer der Reformation zu schüren,
waren getrieben von dem Wunsch, die Bibel wörtlich zu verstehen. Über diese frühen
Übersetzer schreibt Farrar:
Es war in der Tat Wyclif, von dem folgende wichtige Aussage stammt: Der eigentliche
Irrtum in bezug auf die Schrift und die Quelle der Schriftverfälschung durch inkom-
petente Personen ist in der Unkenntnis von Grammatik und Logik zu sehen.4
Und über Tyndale schreibt er:
Der große Übersetzer Tyndale schrieb: Wir mögen der Schrift Bilder oder Allegorien
entlehnen und sie für unsere Zwecke anwenden, wobei dann eine solche Auslegung zwar
nicht dem direkten Sinn der Schrift entspricht, aber in der Freiheit des Geistes neben der
Schrift noch bestehen kann. Allerdings beweisen solche Allegorien gar nichts, sie bleiben
—————-
1 Farrar, a.a.O., Seite 245.
2 Ebd., Seiten 312-313.
3 Ebd., Seite 320.
4 Ebd., Seiten 278-279.
—————-
bloße Vergleiche. Gott ist Geist, und alle Seine Wörter sind geistlich, und Sein wörtli.
cher Sinn ist ein geistlicher. Whitaker, der Gegner Bellarmins (1542-1621),
sagte: Was nun jene drei spirituellen Deutungen betrifft, so ist es sicher töricht zu behaupten,
daß, wenn man Wörtern verschiedene Bedeutungen beilegen kann, auch der
entsprechende Schriftabschnitt mehrere Deutungen zulasse. Denn obwohl man den
Wörtern selbst einen metaphorischen, einen mystischen, einen allegorischen oder
sonst irgendeinen Sinn beilegen mag, so gibt es
nicht schon allein deshalb auch unterschiedliche Bedeutungen, Auslegungen und
Erläuterungen der Schrift. Die Schrift hat nur den einen wörtlichen Sinn, der jedoch
unterschiedlich angewandt werden und aus dem man verschiedene Lehren ziehen kann.1
Auch Briggs, sicherlich kein Freund der wörtlichen Schriftauslegung, zitiert Tyndale mit
den Worten:
Du mußt verstehen, daß der Schrift nur der eine wörtliche Sinn innewohnt. Dieser
wörtliche Sinn ist Wurzel und Grundlage für alles, der Anker, der nie fortgerissen wird.
Wenn du dich an ihn hältst, kannst du niemals irren oder vom Weg abkommen. Wenn du
aber den wörtlichen Sinn außer acht läßt, dann wirst du unweigerlich vom Weg abkom-
men. Nun benutzt die Heilige Schrift wie andere Schriften auch Sprüche, Bilder, Rätsel
oder Allegorien, die aber nur über ihren wörtlichen Sinn die rechte Bedeutung erlangen.
Du mußt also den wörtlichen Sinn fleißig herausarbeiten...2
Die Fundamente der Reformation wurden durch die Rückkehr zur wörtlichen Auslegungs-
methode gelegt.
Während der Reformationszeit verfechten vor allem Luther und Calvin die Wahrheiten der
Schrift. Beide zeichnen sich dadurch aus, daß sie ausdrücklich auf der wörtlichen Aus-
legungsmethode bestehen. Luther meint:
Wir sollten jedes Wort in seiner natürlichen Bedeutung stehen lassen und diese erst dann
aufgeben, wenn der Glaube uns dazu zwingt... Es ist ein Kennzeichen der Heiligen
Schrift, daß sie sich durch Abschnitte und Stellen, die zueinander gehören, selbst auslegt
und nur durch Glauben zu verstehen ist.3
Man kann Luthers eigenen Schriften entnehmen, daß er eine Position vertrat, die man heute
als grammatikalisch-historisch bezeichnen würde.
In seiner Einleitung zum Propheten Jesaja (1528) und an anderen Stellen seiner Schrif-
ten legt Luther dar, welche Regeln er als zuverlässig für die Schriftauslegung erachtet.
Er betont 1) die Notwendigkeit grammatikalischer Kenntnisse, 2) die Wichtigkeit histori-
———-
1 Ebd., Seite 300.
2 Briggs, a.a.O., Seiten 456-457.
3 Ehd.
————
scher und sonstiger Hintergründe eines Textes, 3) die Bedeutung des unmittelbaren
Kontextes, 4) die Notwendigkeit des Glaubens und der geistlichen Erleuchtung, 5) das
Festhalten am 'Maß des Glaubens' und 6) das Prinzip, daß die ganze Schrift Christus
treibt.1
Da Luther den Menschen nicht nur das Wort Gottes geben wollte, sondern auch den
Wunsch hegte, sie deren Auslegung zu lehren, verfaßte er die folgenden Auslegungsregeln:
I. Die erste Regel hebt die höchste und endgültige Autorität der Schrift hervor, un-
abhängig von aller kirchlichen Autorität oder Einmischung
Il. Zweitens verfocht er nicht nur die oberste Autorität der Schrift sondern auch deren
"'Hinlänglichkeit" (Genugsamkeit)...
III. Wie alle anderen Reformatoren auch, verwarf er die langweiligen Erdichtungen,
die von dem vierfachen Sinn ausgingen ... Luther: 'Allein der wörtliche Sinn der Schrift
enthält das ganze Wesen des Glaubens und der christlichen Theologie.' "Ich habe be-
obachtet, daß alle Häresien und Irrtümer ihren Ursprung nicht in den einfachen Worten
der Schrift haben, wie allgemein behauptet wird. Sie entstehen vielmehr durch das Ver-
nachlässigen der einfachen Schriftworte und durch die übertriebene Vorliebe für höchst
subjektive... bildliche Ausdrücke und Hypothesen.' 'In den Schulen der Theologen ist die
Regel sehr bekannt, daß man die Schrift auf vierfache Weise - wörtlich, allegorisch,
moralisch und mystisch - verstehen kann. Wenn wir aber die Schrift richtig behandeln
wollen, müssen wir uns ganz darauf konzentrieren, den unum, simplicem, germanun, et
certum sensum literalem2 herauszufinden.' 'Jeder Abschnitt hat einen eigenen, klaren,
definitiven und richtigen Sinn. Alles andere ist nichts weiter als zweifelhafte und unsiche-
re Meinung.
IV. Es ist daher naheliegend, daß Luther. wie die meisten Reformatoren, die Gültigkeit
allegorischer Auslegung ablehnte. Deren Anspruch, eine geistliche Auslegung zu sein,
anerkannte er überhaupt nicht.
V. Luther hielt ferner an der Verständlichkeit der Schrift fest... Bisweilen kam er der
modernen Bemerkung, daß die Bibel wie jedes andere Buch auch auszulegen sei, sehr
nahe.
VI. Luther verfocht mit aller Kraft und beinahe das erste Mal in der Geschichte das
unveräußerliche Recht, persönlich über die Auslegung der Schrift zu urteilen. Dies ist
gemeinsam mit der Lehre vom allgemeinen Priestertum der Christen ein entscheidender
Grundsatz des Protestantismus.3
————
1 Farrar, a.a.0., Seiten 331-332.
2 Bedeutet soviel wie: den einen, einfachen, deutschen und zuverlässigen, wörtlichen Sinn.
3 Ebd.m Seiten 325-330
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Calvin nimmt einen einzigartigen Platz in der Geschichte der Auslegung ein. Gilbert
schreibt über ihn:
...Es war das erste Mal nach etwa tausend Jahren, daß jemand ein hervorragendes
Beispiel für eine nicht-allegorische Auslegung gab. Man muß schon zu den besten
Werken der antiochenischen Schule zurückgehen, um eine so vollendete Ablehnung der
Methode Philos zu finden wie bei Calvin. Allegorische Auslegungen, die die
"Frühchristentum" hervorgebracht hatte und die von berühmten Auslegern in allen nachfolgen-
den Jahrhunderten bestätigt worden waren, wie z.B. die Deutung der Arche Noahs und
des nahtlosen Gewandes Christi, werden wie Unrat beiseite geschoben. Schon allein dies
verleiht Calvins exegetischem Werk einen bleibenden und hervorragenden Ehrenplatz.
Was ihn dazu führte, die allegorische Auslegung als etwas vornehmlich Satanisches
abzulehnen, ob es seine juristische Ausbildung in Orleans und Bourges oder ob es seine
natürliche Urteilskraft war, ist unklar. Die Tatsache als solche ist unbestritten und das
auffallendste Charakteristikum seiner Auslegung.1
Calvin legt seine eigene Position sehr eindeutig dar. In seinem Kommentar zum Galater-
brief schreibt er:
Laßt uns dessen bewußt sein, daß die richtige Bedeutung der Schrift deren natürlicher
und offensichtlicher Sinn ist. Machen wir uns das zu eigen, und halten wir daran ent-
schlossen fest.2
In seinem Vorwort zum Römerbrief heißt es:
Es ist die vornehmste Aufgabe eines Auslegers, den Autor das sagen zu lassen, was er
sagt, und ihm nicht das in den Mund zu legen, was er nach Meinung des Auslegers sagen
sollte.3
Zu Calvins Beitrag schreibt Schaff:
Calvin ist der Begründer der grammatikalisch-historischen Exegese. Er bekräftigte das
gute hermeneutische Prinzip, das er selbst auch anwandte, wonach die biblischen
Autoren - wie andere vernünftige Schreiber auch - ihren Lesern jeweils einen bestimmten
Gedanken in verständlichen Worten übermitteln wollten. Ein Abschnitt hat entweder
einen wörtlichen oder einen bildlichen Sinn, aber er kann nicht zwei Bedeutungen
zugleich haben. Das Wort Gottes ist unerschöpflich und gültig für alle Zeiten, es gibt
————
1 Gilbert, a.a.O., Seite 209.
2 John Calvin, Commentary on Galatians, Seite 136, zitiert von Gerrit H. Hospers in The Principle of Spiritualization in Hermeneutics, Seite 11.
3 zitiert durch Farrar, a.a.O.. Seite 347.
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jedoch einen Unterschied zwischen Erklärung und Anwendung des Wortes. Die Anwen-
dung muß mit der Erklärung in Einklang stehen.1
Zu dieser ganzen Periode schreibt Farrar:
...die Reformatoren gaben der Wissenschaft der Schriftauslegung einen mächtigen Impuls.
Durch sie wurde die Bibel für jedermann zugänglich. Sie rissen die dichten Spinngewebe
hinweg, die eine willkürliche Tradition seit Jahrhunderten über jedes Buch und jeden
Text gesponnen hatte, und zerstreuten sie in alle Winde. Sie schätzten die Apokryphen
geringer ein als die heiligen Bücher. Sie studierten sorgfältig die ursprünglichen Spra-
chen der Bibel. Sie arbeiteten den klaren, wörtlichen Sinn heraus, den sie zur Stärkung
und Erquickung geistlichen Lebens anwandten.2
Und Gilbert faßt zusammen:
...Man muß dieser Zeit zugute halten, daß in der Exegese die Berücksichtigung des
wörtlichen Sinnes das Normale war. So teilten viele die Auffassung Richard Hookers
(1553-1600). Er sagte: 'Die meiner Meinung nach nahezu unfehlbare Regel bei der
Auslegung der Heiligen Schriften besagt, daß die Auslegung, die sich am weitesten von
der ursprünglichen Wortbedeutung entfernt, gewöhnlich die schlechteste ist. Diese nahezu
unfehlbare Regel muß man bei der Auslegung der Heiligen Schriften beachten. Es gibt
nichts Gefährlicheres als die betrügerische Kunst, die die Bedeutung der Wörter genauso
verändert, wie die Alchemie die Substanz von Metallen verwandelt oder verwandeln will,
die zu -beliebigen Auslegungen gelangt und letztendlich zu nichts führt.' Im allgemeinen
folgten die führenden Geistlichen und Gelehrten der nächsten zwei Jahrhunderte dem
Beispiel Calvins und lehnten allegorische Auslegungen ab.3
Wenn also jemand sich mit seiner Theologie auf die Reformatoren beruft, muß er auch
die Auslegungsmethode akzeptieren, die deren Theologie zugrunde liegt.
VII. Die nachreformatorische Periode
Die nachreformatorische Periode war durch eine große Zahl von Männern gekennzeich-
net, die alle die wörtliche oder grammatikalisch-historische Auslegungsmethode anwandter
und sich in dieser Beziehung eng an die Reformatoren hielten. Dazu Farrar:
...Wenn Luther der Prophet der Reformation war, so war Calvin, Melanchton (als
Vertreter im deutschsprachigen Raum), der Lehrer ...Zwingli, der völlig unabhängi
———-
1 Philip Schaff, zitiert von Hospers, a.a.O., Seite 12
2 Farrar, a.a.0., Seite 357.
3 Gilbert, a.a.O. Seiten 229-230.
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Gearbeitet hatte, war in dieser Frage zu Ansichten gelangt, die in allen wesentlichen
Punkten mit denen Luthers übereinstimmten .... Ihnen folgte eine Vielzahl von reformato-
rischen Auslegern, die sich alle eifrig um die Verbreitung der Wahrheiten bemühten, zu
deren Erkenntnis sie durch die deutschen und schweizerischen Reformatoren gelangt
waren. An dieser Stelle soll es genügen, lediglich die folgenden Namen aufzuführen:
Oecolampad (1581), Butzer (1551), Brenz (1570), Bugenhagen (1558), Musculus (1563),
Camerarius (1574), Bullinger (1575), Chemnitz (1586) und Beza (1605). Sie alle stimm-
ten in ihren Prinzipien grundsätzlich überein. Sie lehnten die scholastischen Methoden
ab; sie weigerten sich, die exklusive Vorherrschaft patristischer1 Autoritäten und der
Kirchentradition anzuerkennen; sie wiesen die bis dahin dominierende vierfache Deutung
zurück; sie vermieden Allegorien; sie studierten die biblischen Sprachen; sie achteten
sorgfältig auf den wörtlichen Sinn; sie glaubten an die Verständlichkeit und Hinläng-
lichkeit der Schrift; sie studierten die ganze Schrift und dabei insbesondere all ihre
inhaltlichen Hinweise auf Christus..2
Man könnte nun erwarten, daß es zu einem kräftigen Wachstum schriftgemäßer Exegese
gekommen wäre, nachdem die Grundlage für die wörtliche Auslegungsmethode gelegt
worden war. Stattdessen offenbart die Auslegungsgeschichte ein beharrliches Festhalten an
überlieferten Glaubensbekenntnissen und Auslegungen der Kirche, dem nur ein bescheide-
ner Fortschritt der gesunden, schriftgemäßen Auslegung gegenübersteht.3
Dennoch bringt diese Epoche solche Exegeten und Gelehrte hervor wie Johannes Koch,
Professor in Leiden (1669), Johann Jakob Wettstein, Professor in Basel (1754), der auf die
Schrift genau dieselben Auslegungsprinzipien wie auf andere Bücher anwandte, Johann
Albrecht Bengel (1752) und andere, die für ihren Beitrag zur Kritik und Auslegung
berühmt wurden und das Fundament für moderne Exegeten wie Lightfoot, Westcott,
Ellicott und andere legten.
Johann August Ernesti war ein Mann, der sich große Verdienste um die Systematisierung
der wörtlichen Methode der Auslegung erworben hat. Über ihn schreibt Terry:
Die bedeutendste Persönlichkeit in der Geschichte der Exegese des achtzehnten Jahrhun-
derts war wohl Johann August Ernesti, dessen 'Prinzipien zur Auslegung des Neuen
Testamentes' (Institutio Interpretis Nove Testamenti, Leipzig 1761) von vier Generationen
biblischer Gelehrter als Standardwerk zur Hermeneutik anerkannt wurde. Hagenbach
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1 Patristisch = die Kirchenväter betreffend.
2 Farrar, a.a.O., Seite 342
3 Vgl. ebd. Seiten 358-359.
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meint: 'Er wird als Begründer einer neuen exegetischen Schule angesehen. Er hatte das
einfache Prinzip, die Bibel konsequent gemäß ihrer eigenen Sprache auszulegen und sich
dabei weder durch irgendeine äußere Autorität wie die der Kirche, noch durch das
eigene Gefühl, noch durch eine verspielte und allegorisierende Phantasie = wie dies bei
den Mystikern oft der Fall gewesen war -, noch durch irgendein philosophisches System
bestechen zu lassen.1
Die Feststellung Horatius Bonars soll als Zusammenfassung der exegetischen Prinzipien
dienen, die zur Grundlage für jede wirklich biblische Auslegung wurden. Er schreibt:
bei der wörtlichen Auslegung des ganzen Wortes Gottes - sei es unter historischen,
dogmatischen oder prophetischen Gesichtspunkten - empfinde ich eine größere Zuver-
lässigkeit. Wenn möglich, wörtlich' ist nach meinem Dafürhalten die einzige Maxime,
die uns angefangen vom ersten Buch Mose bis hin zur Offenbarung sicher durch das
Wort Gottes führt.2
Trotz der Fesseln, die man durch Dogmatismus und Überbetonung des jeweiligen
Bekenntnisses der Auslegung aufzuerlegen suchte, entwickelten sich während dieser Periode
bestimmte gute Prinzipien der Schriftauslegung, die zur Basis für alle bedeutenden exegeti-
schen Werke der folgenden Jahrhunderte wurden. Berkhof faßt diese Prinzipien zusammen:
...es wurde zu einem allgemein anerkannten Prinzip, daß die Bibel wie jedes andere Buch
auch ausgelegt werden muß. Das besondere göttliche Element der Bibel wurde gemeinhin
geringgeschätzt, und der Ausleger beschränkte sich in der Regel auf die Diskussion der
historischen und kritischen Fragen. Die bleibende Frucht dieser Periode ist das ein-
deutige Wissen um die Notwendigkeit der grammatikalisch-historischen Interpretation
der Bibel..
Die Grammatikalische Schule wurde von Ernesti gegründet, der in seinem bedeutenden
Werk über die Auslegung des Neuen Testamentes vier Prinzipien niederlegte.
(a) Eine vielfache Deutung der Schrift ist abzulehnen, der wörtliche Sinn ist entschei-
dend.
(b) Allegorische und typologische Auslegungen sind zu mißbilligen, es sei denn, es ist
klar zu erkennen, daß der Autor eine weitere Deutung mit dem wörtlichen Sinn kom-
binieren will.
(c) Da die Bibel den durch die Grammatik vorgegebenen Sinn mit anderen Büchern
gemein hat, gilt es, auch bei der Bibel diesen Sinn zu ermitteln.
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1 Milton S. Terry, Biblical Hermeneutics, Seite 707.
2 Zitiert durch Girdlestone, a.a.O. Seite 179.
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(d) Der wörtliche Sinn darf nicht durch einen angeblichen dogmatischen Sinn vor-
gegeben werden.
Die Grammatikalische Schule hielt in hohem Maße an dem Übernatürlichen der Bibel
fest; sie wußte sich selbst 'den Worten des Textes als der legitimierten Quelle für zuver-
lässige Auslegung und religiöse Wahrheit' (Elliott) verpflichtet.1
Wenn wir nun die Geschichte der Auslegung noch einmal zusammenfassen, so bleibt
festzuhalten, da alle Auslegung mit der wörtlichen Auslegung Esras ihren Anfang nahm.
Diese wörtliche Methode wurde zur Hauptmethode der Rabbinen. Sie war die anerkannte
Methode, die im Neuen Testament zur Auslegung des Alten Testamentes benutzt wurde.
Der Herr und Seine Apostel wandten sie an. Sie war die Methode der Kirchenväter, bis zu
Origines' Zeiten die allegorische Methode angenommen wurde, um durch sie die platoni-
sche Philosophie mit der Schrift in Einklang zu bringen. Durch Augustinus wurde die
allegorische Methode in der Kirche etabliert, was das Ende jeder wahren und richtigen
Exegese bedeutete. Dieses System bestand bis zur Reformation. Als sie eingeführt wurde,
konnte sich die wörtliche Methode wieder sicher etablieren. Obwohl die Kirche jede
Auslegung in Übereinstimmung mit ihrem Glaubensbekenntnis wissen wollte, behauptete
sich die wörtliche Methode und wurde so zur Basis, auf der alle richtigen Exegesen
aufbauen konnten.
Damit zeigt uns das Studium der Auslegungsgeschichte, daß die wörtliche Methode die
ursprüngliche und anerkannte Auslegungsmethode war. Der HERR, der größte aller
Ausleger, benutzte sie, während alle anderen Methoden eingeführt wurden, um den IIT-
glauben unterstützen zu können. Daher ist heute die wörtliche Methode als grundlegend für
richtige Auslegung auf allen Gebieten der Lehre zu akzeptieren.
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1 Berkhof, a.a.O., Seiten 32-33.
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